In einem Bauträgerprojekt werden Häuser, Wohnungen und Außenanlagen auf Grund der erwarteten Bedarfe der Kaufenden von emotional nicht beteiligten Fachleuten „vorkonfiguriert.“ Die wesentlichen Entscheidungen sind beim Kauf also bereits getroffen worden. Oft werden Bedarfe und Bedürfnisse sogar gezielt geweckt, um mehr verkaufen zu können. Kurzum: Die Kaufenden treffen wenige Entscheidungen selbst.
Ganz anders beim Bau eines individuellen / individualistischen Einfamilienhauses. Hier können die Baudamen und -herren (scheinbar) alles und zu jeder Zeit selbst entscheiden und umentscheiden. Sie treffen viele Entscheidungen alleine, die Konsequenzen tragen nur sie selbst.
Eine Baugemeinschaft vereint Elemente aus beiden Prinzipien. Sie steht vor der Verlockung und Herausforderung alles selbst bestimmen zu können und dies gleichzeitig gemeinsam tun zu müssen. Die Gemeinschaft trifft also viele Entscheidungen gemeinsam.
Die Wunschnachbarn haben sich schon in der ersten Phase der Gruppenbildung entschlossen, Entscheidungen in einem stark strukturierten, konsensorientierten Verfahren zu treffen mit dem Ziel, sowohl für das Bauwerk als auch für die Gruppe als soziale Einheit dauerhaft tragfähige Lösungen zu finden. Dazu haben orientieren wir uns an folgendem „Konsensfahrplan“.

Konsensfahrplan
Die wichtigsten Schritte dabei sind:
- einkreisen des Themas
- Reduzierung auf die wesentliche Frage
- einholen von Informationen
- gleichmäßiger Austausch über Einstellungen, Meinungen, Bedürfnisse
- Entwicklung von verschiedenen Lösungsvorschlägen
- Abstimmungsrunde mit fünf verschiedenen Zustimmungsstufen
- wenn noch kein Konsens gefunden ist: Erkundung von „Restwiderständen“ und Wiedereinstieg in eine der früheren Phasen dieser Entscheidungsfindungsstruktur.
Statt einer Abstimmung mit „Ja/Nein/Enthaltung“ können folgende Rückmeldungen geäußert werden: „Volle Zustimmung; leichte Bedenken; schwere Bedenken; beiseite stehen; Veto“. Nach dem Leitsatz „Widerstände sind noch nicht entdeckte Bedürfnisse“, wird allen unterschiedlichen Positionen (insbesondere auch ‚Widerständen‘ und damit verbundenen Bedürfnissen) eine besondere Wertschätzung entgegen gebracht, indem sich die Gruppe für die genaueren Hintergründe interessiert. Nach dieser qualitativen Erforschung können oft neue, kreativere und tragfähigere Lösungsmöglichkeiten entwickelt werden.
Als hilfreich hat sich erwiesen:
- zeitliche und inhaltliche Vorstrukturierung der Entscheidungen durch Expert*innen des Bauens, der Finanzierung, des Rechtes und der Gruppendynamik
- Kreativphasen zur Einkreisung des Problems und Generierung von Lösungsvorschlägen
- strukturierte Moderation der Entscheidungsdiskussionen durch eine neutrale, von allen anerkannte, vom Konsensverfahren überzeugte Person
- Verantwortung der Aufgaben in den verschiedenen Schritten durch die ganze Gruppe, ggf. durch Kleingruppen oder Delegierte
- Aktivierung von freien Diskussionen und Lösungsmöglichkeiten zwischen den Abstimmungsrunden, z.B. durch ein Treffen von einzelner Vertreter*innen der „Extrempositionen“
- emotionale Reflexion von ’schwierigen Entscheidungen‘ mit ein bis zweiwöchigem Abstand nachdem sie getroffen sind: Wie geht es mir mit dem Entscheidungsprozess?
Der Weg zu glücklichen Entscheidungen ist nicht umsonst. Mit der Entscheidung für ein solches Verfahren entscheidet sich jedes Gruppenmitglied dafür:
- mehr Energie in Entscheidungsverfahren zu stecken, als üblich
- sich an die klaren Verfahrensstrukturen zu halten und der Moderation zu folgen
- sich an allen notwendigen Schritten zur Entscheidungsfindung (s.o.) aktiv zu beteiligen
- sich immer wieder von den Perspektiven der anderen überraschen zu lassen
- die Logik von „die Mehrheit gewinnt – die Minderheit verliert“ einzutauschen gegen das Bestreben, mit vereinten Kräften für die gesamte Gruppe bestmögliche Lösungen zu finden, die möglichst vielen Bedürfnissen gerecht werden.
Schwierigkeiten, die wir im Laufe der Zeit bei diesem Verfahren erkannt haben:
- der Einstieg braucht ein möglichst ‚ruhige‘ Gruppenphase, Zeit und Energie, sich auf Neues einzulassen;
- die verschiedenen Abstimmungsstufen können unterschiedlich gedeutet werden
- die Auszählung, protokollarische Darstellung und „Deutung“ der unterschiedlichen Abstimmungsstufen braucht Gewöhnung
- Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem Anspruch, Entscheidungen möglichst im Konsens, d.h. ohne gravierende Widerstände zu treffen und der Notwendigkeit überhaupt Entscheidungen zu treffen und dann irgendwann doch einem Mehrheitsprinzip zu folgen.
Erfolge, die wir verzeichnen:
- die Gruppe ist personell dauerhaft sehr stabil: vergleichsweise wenige Austritte und Nachbesetzungen
- starke Beteiligung an Entscheidungsprozessen
- unvermutete Lösungen für schwierige Fragen
- der größte Teil der Themen wurde mit allseitiger „voller Zustimmung“ bzw. „leichten Bedenken“ beschlossen, d.h. im „Konsens erster oder zweiter Güte“
- sehr seltene Wiederauflage schon getroffener Entscheidungen.
Bei weiteren Fragen: info@wunschnachbarn.de
Weitere Quellen:
- Schrotta, S. (Hrsg.) (2011) Wie wir klüger entscheiden. Einfach – schnell – konfliktlösend. ISYKONSENS: Graz. kostenloses eBook.
- https://www.sk-prinzip.eu/
- www.konsensieren.eu